Klappentext:
Fontanes spannende und einem dramatischen Ende entgegentreibende
Chronik-Erzählung Grete Minde greift auf Ereignisse
zurück, die 1617 zur Verwüstung der Stadt Tangermünde… mehr
durch einen Brand führten.
Leseprobe:
Das Hänflingnest
»Weißt du, Grete, wir haben ein Nest in unserm Garten,
und ganz niedrig, und zwei Junge drin.»Das wäre! Wo
denn? Ist es ein Fink oder eine Nachtigall?«
»Ich sag es nicht. Du mußt es raten.«
Diese Worte waren an einem überwachsenen Zaun, der zwei Nachbargärten
voneinander trennte, gesprochen worden. Die Sprechenden, ein Mädchen
und ein Knabe, ließen sich nur halb erkennen, denn so hoch
sie standen, so waren die Himbeerbüsche hüben und drüben
doch noch höher und wuchsen ihnen bis über die Brust.
»Bitte, Valtin«, fuhr das Mädchen fort, »sag
es mir.«
»Rate.«
»Ich kann nicht. Und ich will auch nicht.«
»Du könntest schon, wenn du wolltest. Sieh nur«,
und dabei wies er mit dem Zeigefinger auf einen kleinen Vogel,
der eben über ihre Köpfe hinflog und sich auf eine hohe
Hanfstaude niedersetzte.
»Sieh«, wiederholte Valtin.
»Ein Hänfling?«
»Geraten.«
Der Vogel wiegte sich eine Weile, zwitscherte und flog dann wieder
in den Garten zurück, in dem er sein Nest hatte. Die beiden
Kinder folgten ihm neugierig mit ihren Augen.
»Denke dir«, sagte Grete, »ich habe noch kein Vogelnest
gesehen; bloß die zwei Schwalbennester auf unsrem Flur.
Und ein Schwalbennest ist eigentlich gar kein Nest.«
»Höre, Grete, ich glaube, da hast du recht.«
»Ein richtiges Nest, ich meine von einem Vogel, nicht ein
Krähen- oder Storchennest, das muß so weich sein wie
der Flachs von Reginens Wocken.«
Informationen zum Autor: Theodor Fontane (d. i. Henri Théodore F.), 30. 12. 1819 Neuruppin - 20. 9. 1898 Berlin.
F.s Vorfahren waren zum größten Teil Nachkommen frz. Hugenotten. Sein Vater war Apotheker, und F. selbst absolvierte nach einer lückenhaften Schulbildung (1832 Gymnasium Neuruppin, 1833-36 Klödensche Gewerbeschule, Berlin) eine Apothekerlehre in Berlin (1836-40) und arbeitete an verschiedenen Orten als Apothekergehilfe, unterbrochen von dem einjährigen Militärdienst (1844-45). 1847 bestand er das Staatsexamen und unterrichtete anschließend Pharmazie in einem Berliner Krankenhaus, gab den Beruf jedoch 1849 auf und versuchte, sich als Schriftsteller zu etablieren. 1850 heiratete er Emilie Rouanet-Kummer und übernahm eine Anstellung im Presseapparat der preußischen Regierung, um sich und seine Familie ernähren zu können: eine entschiedene politische Wendung des 1848er-Demokraten. Immerhin verhalf sie ihm zu zwei für seine Entwicklung wichtigen Englandaufenthalten (1852, 1855- 1859). Nach seiner Rückkehr wurde er 1860 Redakteur bei der Neuen Preußischen Zeitung, der so genannten Kreuz-Zeitung, für die er u. a. die verschiedenen preußischen Kriegsschauplätze bereiste. Von 1870 an schrieb er Theaterkritiken für die Vossische Zeitung, wobei er für Henrik Ibsen und die dt. Naturalisten eintrat. 1876 war er für wenige Monate Sekretär der Akademie der Künste in Berlin, seine letzte feste Anstellung. Die Philosophische Fakultät der Berliner Universität verlieh ihm 1894 den Titel eines Dr. h. c. Erstes - und nicht zuletzt durch die Aufnahme in Schullesebücher bis heute andauerndes - literarisches Ansehen gewann F. durch seine Balladen mit Stoffen aus der preußischen und engl.-schottischen Geschichte, die er im Literarischen Sonntags-Verein zu Berlin Tunnel über der Spree in den 40er- und 50er-Jahren vortrug; später erweiterte er das Spektrum um Sujets aus der nordischen Geschichte und der Moderne (Technik, Arbeitswelt). Die Reisebücher und Reisefeuilletons, die aus seinen England- und Schottlandaufenthalten erwuchsen, führten F. zur literarischen und historischen Erfassung der eigenen Heimat in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg und können als Vorstufen seines Romanschaffens gelten. Die journalistische Kriegsberichterstattung mündete in umfangreichen Kriegsbeschreibungen und Erlebnisberichten. Mit seinem erst im Alter entstandenen Romanwerk, beginnend mit dem historischen Roman Vor dem Sturm, erreichte der dt. realistische Zeit- und Gesellschaftsroman seinen Höhepunkt, durchaus verspätet im europäischen Kontext. Vor dem Hintergrund der Geschichte und den gesellschaftlichen Entwicklungen der Gegenwart entwirft F. ein kritisches - und immer kritischer werdendes - Bild seiner Zeit und der preußischen Gesellschaft, ihrer Brüchigkeit und Phrasenhaftigkeit, eingefangen nicht zuletzt mit einer durch Ironie, Skepsis und Humor charakterisierte nuancen- und anspielungsreichen Dialog- und Sprachkunst.
In: Reclams Lexikon der deutschsprachigen Autoren. Von Volker Meid. 2., aktual. und erw. Aufl. Stuttgart: Reclam, 2006. (UB 17664.) - © 2001, 2006 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart. weniger